Ein Vertreter der Katholischen Kirche sprach neulich im Radio vom Phänomen des Individualismus, das die heutige Zeit präge. Es ginge derzeit viel „um das Ich, um die Selbstbefreiung, um Selbstfindung oder Selbstentfaltung... Um Selfness und Me Time, um die Anerkennung eigener Bedürfnisse, um die Erfüllung der eigenen Wünsche und Ziele“.1
Das klingt auf den ersten Blick so selbstbestimmt, selbstbewusst, frei gewählt. Der moderne Mensch – nahezu selbstsüchtig – um sich selbst kreisend. Der Beitrag im Radio hat deshalb schnell in mir Widerstand hervorgerufen, weil ich diese Darstellung nicht teilen kann oder er zumindest viele Fragen aufwirft.
Immer wieder lesen und hören wir von Pluralismus, Diversität und Individualismus als Konzepte, die unsere heutige Lebenswelt charakterisieren. Doch was steckt hinter diesen Schlagworten?
Sicherlich gibt es Veränderungen, die den Menschen aus zuvor bestehenden Strukturen und Gefügen als Individuum herausgestellt haben. Eine Entwicklung, die bereits im Mittelalter ihre Anfänge gefunden hat und sich bis heute fortsetzt. Was wir heute wahrnehmen können, ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend u.a. die Familiensysteme, die Geschlechterrollen, die Arbeitszeiten und -verhältnisse verändern. Ist der Mensch dadurch individueller?
„Der oberste Grundsatz im Individualismus ist die Freiheit des Einzelnen.“2
Wie frei sind wir heute wirklich? Wir können machen, was wir wollen, heiraten, wen wir wollen, reisen, wohin wir wollen, kaufen, so viel wir wollen, leben, wie wir wollen, wir können uns beruflich und persönlich entwickeln, zu dem, wer wir sein wollen. Klingt frei. Klingt gut.
Schauen wir doch mal, wie individuell unsere Gesellschaft wirklich ist. Ein Blick auf die Lebensläufe genügt schon. Sie sind erschreckend ähnlich. Da gibt es Schul- und Studienabschlüsse, Ausbildungen, Auslandserfahrungen. Noten. All das zählt. Wir bekommen keine Jobs, weil wir viel Lebenserfahrung, besondere Talente, ein gutes Gespür o.ä. haben. Wir bekommen übrigens auch keine Jobs, weil wir so besonders individuell aussehen oder so eine große Selbstentfaltung leben.
Wir bekommen Jobs, weil wir die Voraussetzungen dafür erfüllen. Und diese Voraussetzungen richten sich nach oben genannten Parametern. Dass Frauen und der eine oder andere Mensch mit Migrationshintergrund ab und zu in die Unternehmensspitze hinaufklettert, ist schon individuell genug!
Fragen wir doch mal Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen, wie individuell das Bildungssystem auf die Besonderheiten eingehen kann? Es gibt weder die finanziellen, noch personellen Ressourcen. Inklusion hin oder her. Am Ende sollten doch alle gleich sein. Die Diagnosen nehmen zu. Die Bildungsangebote leider nicht. Und wie war das mit dem Kind mit Migrationshintergrund in einer Arbeiterfamilie? Hat es die gleichen Startbedingungen wie Thomas, das Kind der Akademiker? Chancengleichheit Fehlanzeige.
Individualismus muss man sich leisten können und setzt erstmal ein hohes Maß an Anpassung voraus. Wenn wir ehrlich sind, erschrecken wir doch bei dem Anblick von wirklich Individuellem! Persönliche Eigenarten verstören uns mehr als dass wir sie kultivieren wollen! Wenn wir im "Zeitalter des Individualismus" leben, warum leiden dann nach wie vor so viele Menschen unter Vorurteilen?
Doch woher kommt generell der Drang nach Selbstentfaltung? Was macht die Auseinandersetzung mit Bedürfnissen und Zielen so wichtig? (Noch) weniger Individualismus hieße ja mehr Vorgegeben, mehr Kollektivismus, mehr Rahmen.
Wer könnte diesen Rahmen bilden?
Eine Kirche, die viele Mitglieder verloren hat, weil sie seit Jahren nicht mit Nächstenliebe, sondern mit Skandalen und Grausamkeiten Schlagzeilen macht? Eine Politik, die gesichtslos, unüberschaubar, den meisten Menschen abgehoben scheint? Familiensysteme, die so viele private und berufliche Herausforderungen gleichzeitig meistern müssen und unter ihren eigenen Traumata leiden?
Individualismus: Wir rücken den Menschen in den Mittelpunkt.
Was wir wirklich tun, ist: Wir verarbeiten Tag täglich eine Flut an Informationen, an Reizen, wir stehen ständig vor Wahlmöglichkeiten, die Entscheidungen von uns verlangen. In kürzester Zeit.
Wir müssen so viele Entscheidungen treffen, die sich früher überhaupt nicht gestellt haben. Wir müssen aufnehmen, sortieren, aushalten und verwandeln. Im Minutentakt. Pausen gibt es kaum. Die Komplexität hat auf allen Ebenen zugenommen. Wer sich unter diesen Rahmenbedingungen nicht mit sich selbst, seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen auseinandersetzt wird von der Flut mitgerissen. Die Suche nach dem Selbst ist keine selbstgewählte Attitüde, vielmehr eine Überlebensstrategie.
Ich lerne bei meiner Recherche über Individualismus die Begriffe Verhaltenskapitalismus, Reizgesellschaft und homo stimulus kennen. Der Mensch als Opfer seiner eigenen Errungenschaften?
Wir sind nicht nur eine Gesellschaft von Individualisten, sondern eine Gesellschaft von Suchenden, von Alleingelassenen. Scheinbar ist doch alles möglich. Scheinbar leben wir alle bedürfnisorientiert. Gerade die Medien gaukeln uns vor, dass nahezu alles verfügbar und machbar sei. Das ist eine Perspektive, aber auch ein Auftrag, der Druck macht. Und dann kommt die Realität, die anders ist. Denn da sind sie wieder, die Dinge, die zählen. Und das sind nicht nur Noten, sondern auch Anstrengung, Disziplin, Ausdauer, Glück. Nicht selten entstehen hier Frust und Verzweiflung, weil es eben nicht so einfach ist, wie die gängige Vorstellung uns unterbreitet.
Frust, Wut, Verzweiflung - gerade dann wenden sich die Menschen auch noch an die Politiker:innen die die Basis für Freiheit und Selbstbestimmung angreifen. Sie schließen sich den Menschen an, die das Fremde ablehnen. Das Andere. Das Voneinander-Lernen und Miteinander-Wachsen. Die damit die letzte Hoffnung auf positiv gelebten Individualismus begraben.
Aber gerade dadurch sehen wir: Wir sind verbunden miteinander. In unserer Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit, Sinn und Anerkennung. Wir alle haben die großen Themen zu bewältigen: Klimawandel, Frieden äußerlich und innerlich. Das geht nur, wenn wir mitmachen. Die gesunde Beschäftigung mit dem Ich ist demnach Voraussetzung für eine gesunde Gesellschaft.
Wir haben die monströse Aufgabe vor uns, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu differenzieren, Konzepte erfolgreich weiterzuentwickeln und uns abzuwenden, von dem, was nachhaltig schadet.
Wir leben im Zeitalter der Eigenverantwortung.
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