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  • Autorenbildcarolin rebmann

Durchgecoacht – eine Gesellschaft im Coaching-Wahn?!

Sie boomt, die Coaching-Szene. Selbsthilfe-Ratgeber, Karrierecoach, Achtsamkeitstraining. Die Möglichkeiten, sich beraten zu lassen und die Persönlichkeit zu entwickeln, scheinen einfach endlos zu sein…da verliert man schnell den Überblick und fragt sich zudem, ob das alles überhaupt nötig ist?!

Sprießen wie Pilze aus dem Boden...Coaches und Ratgeber


Kabarettist Vince Ebert hat in seiner Kolumne im Handelsblatt genau dieses Thema aufgegriffen und von Berufswegen her natürlich die skurrile Seite der Coaching-Szene beleuchtet. Für mich eine gute Gelegenheit, die aktuelle Entwicklung aus meiner eigenen Perspektive unter die Lupe zu nehmen.


Es ist ja nicht nur die schwindelerregende Vielfalt an Coaching-Methoden, im Business und privaten Bereich, oder die Flut an Ratgebern, die die Regale der Bücherläden füllen; es sind vor allem die Autoren dieser Bücher und die selbsternannten Experten, die Grund zum Schmunzeln geben. Denn da fängt das Problem bereits an: die Begriffe Coach und Berater sind nicht geschützt und laden demnach dazu ein, nach Belieben – oder sagen wir großzügig – verwendet zu werden. Laut Vince Ebert handelt es sich bei Coaches und den derzeit so erfolgreichen Buchautoren vorwiegend um Menschen, deren Biografien viel Erfahrung im Scheitern und mit diversen Neuanfängen skizzieren und die weniger für erfolgreiche Unternehmensgründungen und -führung stehen. (Das entspricht natürlich auch dem Klischee der beratenden Person, die selbst Beratung nötig hätte.) Dennoch wollen gerade (oder trotzdem) diese Menschen anderen zu durchschlagendem Erfolg verhelfen und veröffentlichen Ratgeber, die „der Schlüssel zum Erfolg“, „10 Schritte zum Erfolg“, „Glücklichsein im Handumdrehen“ oder ähnlich heißen; denn das ist das, was wir doch alle lesen und hören wollen - dies bestätigen die Verkaufszahlen.


Eine einfache Anleitung zum Glücklichsein? Eine Selbsthilfe, wenn wir taumeln. Einen Leitfaden für Erfolg. Wollen wir das? Ja, warum eigentlich nicht? Wer seinen Blickwinkel auf das Positive, auf die Erfolgsstorys lenkt, kann für sich immer wichtige Impulse gewinnen. Und wenn uns nur ein einziger Satz anspricht aus diesen Büchern, der uns weiterhilft oder anspricht. Es ist motivierend, den Fokus auf das zu richten, was wir möchten, anstatt auf das, was stört, quält oder hindert. Bücher mit Titeln wie „Trotz Einser-Abi in der Gosse“ – so von Vince Ebert humoristisch gefordert – wären aus psychologischer Sicht nicht ratsam (wenn auch aus analytischen Gründen interessant). Aber nein, unsere an Leistung orientierte Gesellschaft orientiert sich natürlich auch an den Werken, die Erfolg und Wohlstand versprechen. Möchte man den sich ähnelnden Ratgebern Glauben schenken, braucht es ja auch nur gewisse Eigenschaften wie Mut und Fleiß und der Erfolg ist gesichert. Dieses Erfolgsrezept bringt uns automatisch Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Glücklichsein. Oder nicht? Und hier ist das nächste Problem: sämtliche Beschreibungen innerer Zustände werden willkürlich und pauschal verwendet. Wer sich jedoch die Mühe macht, genau hinzuschauen und zu definieren, was Glück, was Zufriedenheit, was Reichtum für den Einzelnen bedeuten, wird feststellen, wie variabel und individuell diese Begriffe ausgelegt werden. Da könnte selbst das Buch „Trotz Einser-Abi in der Gosse“ Erfolgspotenzial in sich bergen, sofern der Untertitel lauten würde: „Lieber arm, aber selbstbestimmt. Ein Aussteiger aus der Leistungsgesellschaft berichtet“. Aber Vince Ebert hat natürlich Recht: die heutigen real existierenden Erfolgsschlager der Coaches heißen anders und versprechen mehr, viel mehr.


Geht es denn hier vor allem ums Geld? Nicht nur für die Klienten und Konsumenten ist Coaching eine teure Angelegenheit, auch für Ausbildung und Fortbildung müssen die Coaches selbst viel Geld in die Hand nehmen. Die Vermarktung der Branche funktioniert also auf beiden Seiten gleichermaßen gut. Neben diesem Aspekt liegt auch die Vermutung nahe, die Nachfrage sei enorm gestiegen. Es passt zu unserem Zeitalter der Selbstvermarktung- und Optimierung, sich beraten und coachen zu lassen, um jederzeit und in jeder Situation bestmöglich zu performen. Ich würde jedoch eher formulieren, dass die Bereitschaft gestiegen ist, Veränderungen zuzulassen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gut so. Denn tatsächlich ändern sich unsere Gesellschaft, unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen rasant. Mit der Einführung neuer Technologien wandeln sich Strukturen am Arbeitsplatz und gleichzeitig steigen die Anforderungen und Herausforderungen an uns. Es entstehen neue Kommunikationswege- und abläufe, neue Familienmodelle, während die Bedürfnisse der Menschen nach Harmonie, Anerkennung und Zuwendung immer gleichbleiben. Da ist es wichtig, dass die Bereitschaft existiert, an sich zu arbeiten und mit Veränderungen umgehen zu lernen. Diese heutige Bereitschaft hilft auch, Tabuthemen anzugehen, die seit jeher schon bei vielen Menschen Trauer und Leiden verursacht haben, bisher aber selten im Rahmen einer psychologischen Beratung offen bearbeitet, sondern eher hinten angestellt wurden (z.B. Fehlgeburten, Kinderlosigkeit, Burnout). Die große Öffentlichkeit der Coaching-Szene trägt hier dazu bei, leidenden Menschen eine (gesellschaftlich anerkannte) Möglichkeit der Besserung zu bieten.


Sei es lukratives Geschäft, Zeitgeist oder ehrliches Interesse am Menschen: Beruhigend ist jedenfalls, dass sich jeder Coach (ob im Bücherregal, Seidengewand oder Designer-Anzug) in Aktion mit seinen Klienten und Lesern beweisen muss. Sie alle müssen liefern und dauerhaft überzeugen mit dem, was sie tun. Hier gibt es übrigens einen wesentlichen Unterschied zu Komikern und Kabarettisten, deren Job vorwiegend darin besteht, das Handeln Anderer (aus Politik, Medien, Gesellschaft) zu beurteilen und zu karikieren. Auch hier ist die Konkurrenz groß und eine Begabung von Vorteil, aber immerhin kommen Kabarettisten und Kolumnisten selten in die Lage, selbst Lösungen oder Alternativen für ein Problem generieren zu müssen. Ganz schön bequem. Und auch in dieser Branche lassen sich nicht gerade wenige Bücher auf dem Markt finden, die sich den Menschen und den Geldbeuteln – in diesem Fall – mit dem Mittel des Humors nähern. Manche von ihnen mit wissenschaftlichem Hintergrund wie Physik oder Medizin… immerhin!

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